Liebe Leser,
Ich möchte meine Kolumne mit einem Zitat von August Bebel beginnen: „
Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten
“.
Veränderte Randbedingungen zwingen den Allgemeinen Vertrag für die Verwendung von Güterwagen - AVV - zu einer zeitnahen Anpassung an veränderte rechtliche, unternehmerische und betriebliche Anforderungen. Meine Kolumne wird sich mit einzelnen Aspekten der Weiterentwicklung des AVV befassen. In der heutigen ersten Ausgabe möchte ich einen kurzen Abriss der Geschichte des AVV bzw. seiner Vorläufer geben. Dies soll dazu dienen, die historische Entwicklung des Vertrages bis zum heutigen Tag besser zu verstehen, um die später beabsichtigten Änderungen besser beurteilen zu können.
Die Grundidee des AVV wurde - meiner Meinung nach - Mitte des 19. Jahrhunderts, zu Lebzeiten August Bebels, entwickelt, als der Begriff „Interoperabilität“ noch nicht im allgemeinen Sprachgebrauch war. Damals wurden mit der Inbetriebnahme der ersten Alpentransversalen - Brennerpass 1867, Gotthard-Tunnel 1882 - die Räume nördlich der Alpen mit denen südlich der Alpen zuverlässig verbunden. Schon bald nach der Fertigstellung und mit dem Beweis der zuverlässigen Befahrbarkeit der Tunnel erkannten Händler und Spediteure die wirtschaftlichen Chancen dieser Entwicklung. Zahlreiche Eisenbahngesellschaften beteiligten sich damals am Betrieb.
Schnell erkannten die Beteiligten, dass nur die Zusammenarbeit der Gesellschaften untereinander den größtmöglichen wirtschaftlichen Erfolg sichern würde. Bereits 1893 wurde mit der „OCTI“ ein erstes internationales Güterverkehrsabkommen für den internationalen Eisenbahnverkehr abgeschlossen. Ziel war die Förderung, Verbesserung und Erleichterung des internationalen Eisenbahnverkehrs. Der Schwerpunkt lag dabei nicht auf der Technik der Fahrzeuge, sondern auf deren betrieblicher Nutzung und auf einheitliche Regeln für Haftung bei Verspätung oder Beschädigung der Fracht - heutige ER CIM.
Der nach dem Ersten Weltkrieg zunehmende grenzüberschreitende Güterverkehr auf der Schiene stieß mangels Standardisierung der Güterwagen schnell an seine technischen Grenzen. Mit der Gründung des Internationalen Eisenbahnverbandes (UIC) im Jahr 1922 wurde das Ziel verfolgt, die Konstruktion und den Betrieb von Güterwagen durch Standardisierung zu verbessern. Ebenfalls 1922 schlossen die europäischen Eisenbahnen mit dem Regolamento Internazionale Veicoli (RIV) ein Abkommen, das Regelungen für den internationalen Eisenbahnverkehr mit international einsetzbaren Güterwagen zum Gegenstand hatte.
MIT „RIV EUROP“ stand den beteiligten Bahnen von 1953 bis 2002 ein europäischer Güterwagenpool zur Verfügung, dessen Ziel die freie Verwendung der gängigen Güterwagenbauarten in neun beteiligten Ländern sicherstellte.
Die Liberalisierung des europäischen Bahnverkehrs, der Markteintritt weiterer EVU ab Mitte der 90er Jahre, die Bereitstellung von Güterwagen durch weitere private Wagenhalter sowie die zunehmende Einführung von Spezialgüterwagen, die an die zu transportierenden Güter angepasst sind, führten zu der Forderung, geeignete Verfahren für die Behandlung der Wagen beim Austausch zwischen den EVU einzuführen. Das RIV konnte die veränderten Anforderungen nicht mehr erfüllen. Dies führte zum Abschluss des 1. AVV-Vertrages im Jahre 2005.
Wichtig ist mir, dass Sie drei wesentliche Änderungen der Randbedingungen für das Regelwerk kennen:
- Entwicklung von wenigen „Staatsbahnen“ hin zu hunderten von Eisenbahnverkehrsunternehmen;
- Entwicklung von nationaler Gesetzgebung hin zu europaweiten Regelwerken;
- Entwicklung von der zentralen Verantwortung eines Eisenbahnunternehmens hin zur geteilten Verantwortung zwischen Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU), Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), Entity in Charge of Maintenance (Verantwortung für die Instandhaltung der Eisenbahnfahrzeuge; ECM).
Marquardts Meinung
: Nicht nur der AVV-Vertrag muss sich an die veränderten Randbedingungen anpassen, sondern auch bewährte Handlungsweisen und Dokumente des AVV sollten in der Weiterentwicklung der Regelwerke berücksichtigt werden.
In der Folge will ich in meiner Kolumne einzelne Aspekte des AVV-Vertrages aus der Sicht des Eigentümers, des Halters, des EVU, der ECM und der Werkstätten beleuchten. Diese Kolumne ist mir ein Anliegen, weil viele Missverständnisse an den Schnittstellen zwischen den Verantwortungsbereichen entstehen. Da ich während meiner aktiven beruflichen Tätigkeit alle Verantwortungsbereiche des AVV-Vertrages wahrgenommen habe, kann ich jetzt, im Ruhestand, „von außen“ zu den Themen Stellung nehmen.
+++
Liebe Leser, auch bei dieser Kolumne gilt: Sie können lesen und schreiben! Wenn Sie Anmerkungen oder Ergänzungen zur Kolumne von Dr. Marquardt haben oder wenn Sie seine Meinung zu einem anderen Thema lesen möchten, schreiben Sie an: "
Marquardt@BahnVerstand.ch
".