Gekürzte Version - Das komplette Interview lesen - genau, die
Mitglieder der Liga AVV-Experten
. Alternativ bitten Sie
Falk Wilhelmi per E-Mail,
ihnen das ungekürzte Interview zuzusenden, das geht auch.
Herr Wilhelmi, Sie leiten seit 2021 die Produktion bei Flex Bahndienstleistungen in Leipzig - was hat Sie zu dieser Aufgabe geführt?
Bei Flex Bahndienstleistungen bin ich seit September 2021 beschäftigt. Nach 13 Jahren bei den Eisenbahnen und Verkehrsbetrieben Elbe-Weser - EVB, ebenfalls im Bereich Logistik / Güterverkehr, und zuvor 15 Jahren bei DB Netz war es für mich im Jahr 2021 an der Zeit, meinen Horizont nochmal zu erweitern. Und das ist mit der Aufgabe bei Flex wirklich gelungen.
Flex Bahndienstleistungen hat den AVV erst im Jahr 2019 unterzeichnet - Was ist Ihnen als „Neuling“ beim Lesen dieses Vertragswerks besonders ins Auge gefallen?
Aufgefallen ist mir als erstes, dass viele Unterzeichner des AVV so tun, als ob das Regelwerk des AVV eindeutig wäre. Das ist aber meiner Meinung nach nicht der Fall! Oft höre ich den Satz „
Laut AVV müssen Sie ... dies oder jenes tun
“. Wenn man in die Materie einsteigt, sich mit dem Hauptvertrag, den Anhängen und deren Anlagen beschäftigt, merkt man, wie komplex der AVV ist. Und dass manches gar nicht so explizit dort steht, wie es behauptet wird. Viele Regelungen werden von verschiedenen Beteiligten unterschiedlich interpretiert, weil der AVV Raum für Interpretationen lässt. Und das Regelwerk ist so umfangreich, dass ich vermute, dass einige Beteiligte gar nicht so genau wissen, was alles drin steht. Man muss sich wirklich Zeit nehmen, um die Struktur und den Charakter zu verstehen.
Sehr schnell ist mir auch aufgefallen, dass die im AVV aufgeführten Parteien Halter und Bahn nicht mehr die heutigen Beteiligten in der Logistikkette widerspiegeln. Spediteure, die selbst Wagen anmieten oder disponieren, teilweise sogar die Instandhaltung steuern, ohne Halter, EVU oder ECM zu sein, kommen im AVV nicht vor. Auch berücksichtigt der AVV die ECM-Durchführungsverordnung in keiner Weise. Nach dem AVV müsste jedes EVU gleichzeitig mit ECM-Funktionen und -kompetenzen ausgestattet sein, was heute bei den meisten AVV-Bahnen nicht mehr der Fall ist. Da die ECM-Durchführungsverordnung als sicherheitsrelevantes Regelwerk hierarchisch über dem AVV steht, dürfen die EVU m.E. einige dort genannte Aufgaben, wie z.B. die Beauftragung / Durchführung von Instandsetzungsarbeiten, gar nicht durchführen und müssen diese Tätigkeiten an die zuständigen Halter / ECM delegieren. Das gehört m.E. dringend bereinigt.
Und schließlich - was wohl jedem AVV-Verantwortlichen der Güterbahnen sofort auffällt: Die Regelungen zur Haftungszuweisung, zur möglichen Beweisführung und zur Entlastung lassen viel Interpretationsspielraum. Wie führt ein EVU einen Beweis gemäß Artikel 22 AVV? Genügt eine Argumentation oder müssen Beweise z.B. in Form von Dokumenten oder Bildern vorgelegt werden? ...
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Als Strecken-EVU mit Partnerbahnen, last-mile-Anteilen und als Rangierdienstleister übernehmen wir täglich 300 – 400 Waggons deutschlandweit. Wir haben fast wöchentlich Meldungen über Flachstellen, Auftragungen oder Erscheinungen auf der Lauffläche, in den verschiedensten Auswüchsen. Es kann ja nicht richtig sein, dass der Radsatzschaden inzwischen zum Tagesgeschäft gehört; da läuft etwas schief im System Bahn! Zur Zeit der Grauguss-Sohle war eine Flachstelle ein Ereignis, was herausstach. Heutzutage richtet man sich Sammelordner nur für diese eine Art AVV-Schäden ein.
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Leitender Gedanke von Anlage 12 AVV ist die Trennung zwischen Verschleiß und Gewaltschäden. Wenn ich im Zugverband 20 Wagen bewege, bei der Fahrt 19 Wagen am Ziel unbeschädigt ankommen und bei einem Wagen Radsatzschäden vorhanden sind, die nicht durch Handbremse oder Festlegemittel entstanden sind: wie soll der Tf Schuld sein daran, dass diese eine Bremse anders reagiert hat als die der 19 anderen Wagen?! Für mich ist klar: das ist dann kein Gewaltschaden, sondern eine Fehlfunktion, ja, nennen wir es in dem Fall auch "Verschleiß".
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Wenn mir beim Auslesen der Lokomotive nichts auffällt, wenn die Handbremse gelöst war, lehnen wir die Haftung ab und erklären dem Halter, dass der Schaden nicht in unserem Gewahrsam entstanden sein kann. Das entspricht dem gesunden Menschenverstand
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Viele Halter tun unsere inhaltliche Argumentation als nicht zulässige Einzelmeinung ab. ...
Es muss sichtbar werden, dass nicht einzelne EVU die Ausreißer sind, sondern dass das System krankt. ... Der Androhung von rechtlichen Schritten folgten bisher jedoch keine Taten.
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Vielleicht können wir im Kreis der 60 Unterstützer (
des AVV Änderungsantrags von SBB Cargo International)
eine Art Graswurzel-Interessenvertretung gründen. Gegenseitige Unterstützung bei aktuellen Fällen, aber vor allem ein Umdenken in der Branche anstossen.
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Es muss allen klar werden, dass der Ansatz, die Laufflächenschäden einfach irgendwo hinzuschieben, irgendwen zu finden, der das bezahlt, dem gesamten Verkehrsträger Schiene und damit allen Beteiligten schadet.
Herr Wilhelmi - danke für dieses Interview!