Entgleisung im Ausland
Dies ist das Ergebnis des ersten kniffligen AVV-Falls von BahnVerstand überhaupt. Im Oktober 2020 nahmen acht AVV-Experten von Bahnen, Haltern und einer Werkstatt teil und diskutierten, ob in diesem Entgleisungsfall die Akteure richtig gehandelt haben und wer einen Anspruch an wen hat – auf welcher Grundlage und in welcher Höhe.
Ein verwendendes EVU nennt im Schadenprotokoll eine Entgleisung bei einem Dritten. Der im Schadenprotokoll genannte Dritte weigert sich, die mit der Entgleisung verbundenen Kosten zu tragen. „Man sei für die Entgleisung nicht verantwortlich und habe dies dem verwendenden EVU auch mitgeteilt“ Im Kern geht es um die Frage, ob ersatzweise das verwendende EVU dem Halter für die Entgleisungskosten aufkommt, da es nicht beweisen konnte, dass es den Schaden nicht selbst verursacht hat. Wo liegt der Unterschied zwischen Behaupten und Beweisen?!
Datum: 29. Oktober 2020 16:00 bis 17:00 Uhr – Microsoft Teams-Videokonferenz
Moderation: Dr. Christoph Gabrisch BahnVerstand GmbH
Fallbeschreibung - Stefan Becherer SBB Cargo AG Olten
Entgleisung im Ausland.
- 27.08.19: SBB Cargo erhält Schadenprotokoll vom verwendende EVU für den Wagen 31 85 6733434-3 mit dem Schadencode 8.1.1 Entgleisung => als Verursacher der Entgleisung wird ein Dritter genannt.
- 29.08.19: Das verwendende EVU macht den Wagen lauffähig und wechselt die betroffenen Radsätze. IH-Kosten werden an SBB Cargo in Rechnung gestellt.
- 20.12.19: SBB Cargo erstellt Gesamtkosten-Rechnung über CHF 15'568.86 an den auf dem Schadenprotokoll genannten Dritten.
- 27.01.20: Rechnung wird vom genannten Dritten abgelehnt. Man sei für den Schaden nicht verantwortlich und habe dies dem verwendenden EVU so mitgeteilt.
- 29.01.20: SBB Cargo informiert das verwendende EVU dass der genannte Dritte die Verantwortung ablehnt und dass wir ie Kosten nun an das verwendende EVU weiterverrechnen werden.
- 30.01.20: Weiterverrechnung der Kosten an das verwendende EVU. Forderung ist immer noch offen!
Anbei anonymisierte Schadenprotokoll. (Hinweis: der Ort der Schadenfeststellung des Radsatz-Schadens war der Team-Bahnhof also rund 20 km vom Kundenanschluss entfernt.)
Was wäre in diesem Fall AVV-konformes Handeln gewesen?
Aus der Diskussion
War der Wagen im „Gewahrsam des EVU“ und gilt überhaupt der AVV?
- TT: Wenn örtliches Manöver als Dienstleistung vergeben wurde muss man die Verträge kennen und schauen was dort geregelt ist.
- SB: Das Zustellmanöver ist vom EVU selbst erbracht worden.
- SB: Und ja: Der Schaden wurde im Teambahnhof festgestellt – 20 km vom Kundenanschluss entfernt. Hier war der Wagen im Gewahrsam des EVU!
Wenn das EVU den Schaden schon vor Übernahme hatte entdecken können- hätte das EVU den Wagen zurückweisen können gemäss Art. 11 AVV?
Kein eindeutiges Fazit der Diskussion. Auch nach Ende der Beförderungspflicht sehen sich EVU „moralisch verpflichtet“ sich auch dieser Wagen anzunehmen. Für eine strikte Übernahmeweigerung dieser Wagen spricht sich kein Teilnehmer aus. Sonderfall BLS Cargo: Dieses EVU weigert beispielsweise die Übernahme von beschädigten / nicht lauffähigen Wagen aus Terminals um deutlich zu machen dass der Schaden eben nicht in seinem Gewahrsam passiert ist. (BLS Cargo kümmert sich anschliessend aber doch darum dass die Wagen lauffähig gemacht werden – als wäre der Schaden in seinem Gewahrsam passiert).
Cyrille Huber zu den Meldeketten: Info erfolgt in solchen Fällen an das Terminal erst telefonisch und dann per E-Mail. BLS Cargo informiert anschliessend aber auch den Halter durch ein Schadenprotokoll.
Wenn das EVU den Schaden erst nach der Übernahme entdeckt hat:
Ist das EVU gegenüber dem Halter schadenersatzpflichtig gemäss Art 22.1 AVV?
Ja. So steht es schwarz auf weiss in Art 22.1 AVV. Aus der Pflicht kommt das EVU nur heraus wenn es einen Beweis liefert dass die Schuld bei einem Dritten lag.
Reicht der Hinweis des EVU im konkreten Fall „das muss beim Verlader passiert sein“ als Beweis für „ich bin nicht schuld und dem Halter gegenüber nicht schadenersatzpflichtig“ aus?
- TT: Für ein EVU ist dieser pauschale Verweis ein übliches Vorgehen. Als Halter würde ich es nicht akzeptieren es ist nicht AVV-konform. und nein im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Vermutung nicht um einen echten Beweis 🡺 AVV konform ist es wenn das EVU im konkreten Fall den Schaden des Wagenhalters erstattet.
- VZ: Leider sind diese Fälle häufig in der Praxis: Am Ende läuft es auf einen Wettbewerb der Beweisführung zwischen den beteiligten EVU hinaus.
In der perfekten AVV-Welt: wie muss ein AVV-konformer „Beweis“ aussehen um zu dokumentieren dass der Verlader und nicht das EVU Verursacher des Schadens war?
- SB: Ein AVV-konformer Beweis wäre es gewesen – wenn schon keine Unterschrift des Anschließers eingeholt werden kann - die Haftbarkeits-Diskussion mit dem Anschließer zu dokumentieren und dem Halter zur Verfügung zur stellen. Im vorliegenden Fall hat der Halter nichts in der Hand um Ansprüche an den Anschließer geltend zu machen.
- CG: In Anlage 4 AVV ist bei Verschulden Dritter eine Fussnote eingefügt wonach erst die Unterschrift des Dritten Beweis genug ist um das EVU aus der Haftung zu befreien: „Der Verursacher (Dritter) hat auf einem separaten Dokument die Haftungsübernahme zu bestätigen damit sich das EVU gemäß AVV Artikel 22 entlasten kann. Das Dokument ist dem Schadensprotokoll als Anlage beizufügen“.
Sonderfrage: Überfuhr des beschädigten Wagens in den Teambahnhof – Wie lässt sich das mit den Vorgaben zum sicheren EVU Betrieb vereinbaren?
- TT: Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Je nach Prüfregime des EVU kann so eine Überfuhr schon vorkommen.
- TT: ABER: Entgleisung ist gefährliches Ereignis im Bahnbetrieb. Hier hätte seitens EVU ein Schadenbericht oder eine Unfalluntersuchung erfolgen müssen. Der Eisenbahnbetriebsleiter sollte Eigeninteresse an der Ursachenforschung haben!
- TT: Das EVU erkennt solche Ereignisse i.d.R. nur zufällig. Aber wenn es schon mal erkannt wurde – wie in diesem Fall dann soll das EVU an seine Pflicht erinnert werden einen sicheren Bahnbetrieb zu gewährleisten.
Fazit: Das folgende Vorgehen wäre in diesem Fall AVV-konform gewesen / Einschätzungen der Teilnehmer
Im Teambahnhof als Ort der Schadenfeststellung war der beschädigte Güterwagen eindeutig im Gewahrsam des EVU. Damit lag die Haftung für den Schaden klar beim EVU gemäß Art 22.1 AVV. Die Antwort des EVU: „die Entgleisung muss beim Anschließer passiert sein“ ist eine Behauptung / eine Vermutung und erfüllt in dieser unbelegten Form nicht die Anforderungen an einen Beweis der gemäß Art. 22.1 AVV nötig ist damit sich ein EVU von seiner Haftung befreien kann.
Schließlich wirft der Fall eine Frage jenseits des AVV auf; jede Entgleisung des Wagens ist ein gefährliches Ereignis im Eisenbahnbetrieb und hätte vom Eisenbahnbetriebsleiter aufgegriffen und untersucht werden müssen um zu prüfen wie Wiederholungen vermieden werden können.
Zweiter Schritt: Wie kann der Fall-Einreicher die bestehende Konfliktlage überwinden?
Generelle Empfehlung: der Einreicher soll das EVU unverändert in die Haftung nehmen gemäss Art. 22.1. AVV. Bislang hat das EVU keine Beweise vorgelegt die es aus der Haftung befreien. (z.B. eine Dokumentation über die Auseinandersetzung mit dem Anschliesser beim Ergründen der Schadenverursachung). Der Beschluss aus der heutigen Video-Konferenz kann gerne als Argument eingebracht werden.
Empfehlung 1: Das EVU soll ermuntert werden das Dossier an seine Haftpflichtversicherung weiterzuleiten. Damit kann der Konflikt verlagert werden weg vom Geschäftspartner und hin zur Versicherung.
Empfehlung 2: Streitbeilegung über eine nicht-antwaltliche Mediation. Diese eignet sich wenn beide Konfliktparteien Interesse haben an einer langfristig guten Geschäftsbeziehung und einer einvernehmlichen Lösung. BahnVerstand bietet für diese Variante Unterstützung an – in Verbund mit einem zertifizierten Mediator.
Empfehlung 3: Sollte sich die Gegenseite weder auf die AVV-konforme Haftung einlassen noch Interesse an einer einvernehmlichen Streitbeilegung zeigen bleibt der Weg vor Gericht. Die Teilnehmer der heutigen Konferenz äussern „Mit dem AVV im Rücken hätte der Fall-Einreicher vor Gericht gute Karten.“
Abstimmung der Teilnehmer ob sie diese Empfehlungen mittragen:
- Zustimmung: 4 Teilnehmer
- Ablehnung: Keine
- Enthaltung: 3 Teilnehmer
Nächster Fall: Donnerstag 26. November 2020 16:00 – 17:00 Uhr
Für das Protokoll
Christoph Gabrisch – BahnVerstand GmbH