Wie entschädigt ein EVU Radsätze, die das Betriebsgrenzmass erreicht haben?
Der heutige knifflige Fall führt uns in das Kapitel 8 des Schadenkataloges, in die Welt der „Besonderen Ereignisse“. Konkret geht es um die Folgen eines unzulässigen Rangierstoßes. Der Fall ist doppelt knifflig; Zum einen ist zu klären, ob die Entgleisungsschäden wirklich dem Auflaufstoss zuzuordnen sind. Zum anderen ist zu klären, welcher Schaden genau dem Halter entstanden ist an den weitgehend abgefahrenen Radsätzen.
Der knifflige AVV-Fall Februar 2024
Datum erneute Behandlung: Donnerstag, 21. März 2024 15:30 bis 17:00 Uhr
Datum erste Durchsprache: Donnerstag, 15. Februar 2024 15:30 bis 17:00 Uhr
Moderation: Dr. Christoph Gabrisch, BahnVerstand
Fall Beteiligte:
- Wagenhalter: AVV-Halter
- Verwendendes EVU: AVV-EVU/ hat den Rangierstoss verursacht.
Ereignis
Am 6. April 2021 erstellt das AVV-EVU ein Schadenprotokoll mit Code 8.1.2.
Fragen zur Fallbeschreibung?
Und, was schreibt der Schadenkatalog Anlage 9 AVV bei Auflaufstössen vor?
Und, welches Verfahren schreibt Anhang 9, Anlage 9 AVV vor?
Der Halter verfügt den Wagen in eine Werkstatt, um Vermessungsarbeiten durchzuführen.
Und, welches Verfahren schreibt Anhang 10 zum Umgang mit diesen Wagen vor?
Werkstatt-Fazit
Die vom Halter beauftragte Werkstatt entdeckt Entgleisungsspuren an den Radsätzen. Fazit der Werkstatt: alle Radsätze sind zu reprofilieren.
Reprofilieren geht nicht, da Betriebsgrenzmasse erreicht sind/durch das Reprofilieren unterschritten würden.
Die Werkstatt bescheibt drei Radsätze neu, ein Radsatz fällt aus, weil der Halter diese Bauart nicht neu bescheibt.
Die Werkstatt dokumentiert im Radsatz-Instandsetzungsblatt jeweils als Ausbaugrund:
Und nein – Die Halter-Werkstatt hat die Radsätze nicht fotografiert.
Chronologie der Ereignisse
Am 12. Oktober 2021 sendet der Halter dem verwendenden EVU eine Haftbarhaltung.
Am 2. November 2021 erkennt das EVU die Haftung für die „angezeigte Beschädigung des o.g. Wagens vom 6.4.2021 in Hamm(Westf) Rbf an.“
Am 15. August 2023 sendet der Halter dem EVU die Kostenaufstellung und bittet um Prüfung und Bestätigung der Kosten.
Am 15. September 2023 antwortet das EVU: „…die rechnungsbegründenden Unterlagen sind geprüft und die Schadensersatzsumme von XX € wurde … gebucht. Für den Nutzungsausfall wurden die YY Tage akzeptiert, aber die Radsatzkosten werden abgesagt, denn lt. RDS Meldung 'entgleist' aber hier war „nur“ ein starker Auflauf und die Pauschalen werden auch nicht berücksichtigt.“
Am 5. Dezember 2023 mahnt der Halter die Entschädigung für die vier Radsätze an „… sind die Radsätze Ihrerseits nicht akzeptiert worden, was nicht nachvollziehbar ist. Alle Radsätze wurden nachweislich mit Spuren einer Entgleisung, siehe Radsatzmeldung „Eingang“ von der Werkstatt, erkannt.“ Der Halter fordert die Erstattung in Form der Aufarbeitungspauschale von 850 EUR pro Radsatz an.
Am 12. Dezember 2023 lehnt das AVV-EVU die Kosten für Radsätze erneut ab. Begründung: „ Es gab einen starken Auflauf und hierzu sind keine Beschädigungen an den Radsätzen beschrieben, denn die VPI Codierung 09 für "entgleist" als Ausbaugrund kann nur ein Hinweis auf diese Fehleinformation sein. Zusätzlich sind aber alle Radsätze im Ausbaugrund „Laufkreisdurchmesser erreicht“ codiert und nachfolgend dementsprechende mit einer IS3 Neubeschrieben worden (1 Rds ist dabei ausgefallen). Sollten Ihnen die einzelnen Radsatzinstandsätzungsblätter vorliegen und dort ggf. Materialauftragungen bzw. Flachstellen beschrieben sein, dann bitte um Zusendung.“
Technische und rechtliche Fragen
Die Auseinandersetzung zwischen Halter und EVU dreht sich im Wesentlichen um die Frage, ob durch den Auflaufstoss im Rangierbetrieb ein ersatzpflichtiger Schaden entstanden ist und wenn ja, in welcher Höhe ein Entschädigungsanspruch besteht.
Fragen zur Technik
- Entgleisung evtl vor oder nach dem Ereignis passiert?
- Waren die VPI kodierten Ausbaugründe in der Werkstatt richtig angegeben?
- Wie ist der Wagen von Hamm nach Hagen gekommen?
- Hatte der Wagen einen Stoss-Sensor / GPS Gerät?
- Können bei einem scharfen Auflaufen an den Radsätzen Entgleisungsspuren auftreten?
- War der Wagen nach dem Auflaufstoss „lauffähig“?
Fragen zur juristischen Einordnung des Falls
- Handelt es sich um einen AVV-Fall?
- Ist dem Halter durch das Ereignis ein Schaden entstanden? Welcher Schaden genau?
- Kann der Halter seine Schadenersatz-Forderung auf eine Feststellung der von ihm ausgewählten Werkstatt stützen?
Fazit zum Fall
Aus der Diskussion kann im März 2024 folgendes Fazit gezogen werden:
- Die heute gewonnene Erkenntnis über den zweiten am Rangierstoss beteiligten Wagen (stark beschädigt) hat unser Bild des vorliegenden Falls geschärft/vervollständigt.
- Die Information aus der Werkstatt („Wagen ist entgleist“) ist nach zwei Jahren an das EVU gegangen – das ist viel zu spät gewesen!
- Fotos der Werkstatt vom Schaden hätten nicht geschadet bei der Anspruchsklärung …
- Ein EVU muss sich an dem von ihm erstellten Schadenprotokoll festhalten lassen, wenn der Halter lediglich die Arbeiten ausführen lässt, die die übliche Konsequenz eines solchen Schadenprotokolls sind.
- Ein Richter kann hier in beide Richtungen ein Urteil fällen, je nachdem, für wie weitreichend er die Haftbarhaltung hält. Entweder muss das EVU die Entgleisungskosten an den Radsätzen zahlen, weil die Anerkennung der Haftung für die Folgen des Rangierstosses die Entgleisungskosten mit umfasst. Oder das EVU muss die Entgleisungskosten an den Radsätzen NICHT bezahlen, weil diese Kosten vom protokollierten Schadenereignis nicht gedeckt sind und der Halter seinen Schaden nicht rechtzeitig belegt hat.
Beschluss
Alle 13 Teilnehmer einstimmig angenommen, ohne nein Stimmen – ohne Enthaltung.